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Zeit als neuer Wohlstand?
Neue Arbeitszeitmodelle können einen nachhaltigen Lebensstil fördern

Nachhaltigkeit

Das bringt der Sechsstundentag

Führt eine Reduktion der Erwerbsarbeit zu mehr Lebensqualität, weniger CO2-Ausstoss und weniger Ungleichheit? Unter gewissen Bedingungen durchaus, so die Zwischenbilanz eines Forschungsprojekts am Centre for Development and Environment CDE.

 

Was braucht es, damit eine Reduktion der Erwerbsarbeitszeit zu einem nachhaltigeren Lebensstil führt? Was passiert ganz konkret mit den Menschen, die ihre Erwerbsarbeit freiwillig reduzieren, hinsichtlich ihres Wohlbefindens und ihres ökologischen Fussabdrucks? Diese Fragen erforscht das Projekt «Zeitwohlstand» am Centre for Development and Environment CDE. Dazu wurden während knapp zwei Jahren dieselben 800 Personen zu drei verschiedenen Zeitpunkten zu ihrer Erwerbsarbeit, ihrem Wohlbefinden und ihrem ökologischen Fussabdruck befragt. Verglichen wurden Vollzeit- und Teilzeitarbeitende sowie Personen, die in dieser Zeitspanne ihre Arbeitszeit reduzierten. Ende 2020 hat das Forschungsteam um den Wirtschaftswissenschaftler Christoph Bader und die Umweltpsychologin Stephanie Moser erste Resultate vorgelegt.

Diese zeigen klar: Beim Vergleich von Voll- und Teilzeitarbeitenden sind Personen, die weniger arbeiten, im Allgemeinen zufriedener und berichten weniger klimaschädliche Verhaltensweisen. Bei den Personen, die ihre Arbeitszeit während der Zeit der Untersuchung reduzierten, stieg das Wohlbefinden leicht an. Tendenziell nehmen in dieser Gruppe auch klimafreundliche Verhaltensweisen zu, unter anderem weil sie weniger pendeln.

Puzzlestück für ein nachhaltigeres System

Auf Basis dieser individuellen Daten und einer Auswertung bestehender gesamtwirtschaftlichen Studien auf Länderebene schlägt das Forschungsteam in einem Working Paper vor, die Schweiz solle die Erwerbsarbeit reduzieren und beispielsweise einen Sechsstundentag oder eine Viertageswoche einführen. «Die Klimakrise ist kein individuelles Problem, das sich allein mit nachhaltigem Konsum bewältigen lässt, sondern ein systemisches Problem – diese Botschaft der Klimabewegung ist in breiten Bevölkerungsteilen angekommen», so Christoph Bader: «Unser Vorschlag, die Erwerbsarbeitszeit zu reduzieren, geht in eine ähnliche Richtung: Er ist ein mögliches Puzzle-Teil, um zu einem insgesamt nachhaltigeren System zu kommen», ergänzt Stephanie Moser.

Podcast zum Thema

Zu Gast bei den «Scientists For Future»

Dr. Stephanie Moser und Dr. Christoph Bader vom CDE-Projekt «Zeitwohlstand» waren 2020 auch zu Gast im «Scientists For Future»-Podcast – einer Gesprächsreihe über den Klimawandel, Nachhaltigkeit und eine lebenswerte Zukunft.

Vier Finanzierungsmodelle

Doch wer soll eine Erwerbsarbeitszeitreduktion finanzieren? Dazu hat das Forschungsteam vier Möglichkeiten skizziert. Erstens schlicht durch weniger Verdienst, was bedeutet, dass die Arbeitnehmenden weniger Geld für weniger Arbeit erhielten. Bei diesem Modell ist die Frage der sozialen Abfederung zentral. «Wir schlagen ein Modell vor, das die Arbeitszeitverkürzung mit einem abgestuften Lohnausgleich verbindet», so Bader. Dabei könnten Menschen, die derzeit 42 Stunden arbeiten, aber weniger als den Medianlohn verdienen, künftig bei vollem Lohnausgleich zum Beispiel 30 Stunden arbeiten. Sie hätten gleichviel Einkommen, aber mehr Zeit zur Verfügung. Umgekehrt würden Personen mit hohem Einkommen höchstens einen Teil der Einkommensminderung vergütet erhalten. Sie hätten also ein etwas tieferes Einkommen, aber ebenfalls mehr Zeit. «Statistisch ist erwiesen, dass ein höheres Einkommen zu mehr Umweltbelastung führt. So gesehen, wäre dies auch ökologisch sinnvoll», erklärt Bader, und betont: «Es ist wichtig zu sehen, dass sich Lebensqualität nicht nur an Geld misst – Zeit ist auch eine Form von Wohlstand.»

Die zweite Variante, die das CDE-Forschungsteam skizziert: Trotz reduzierter Arbeitszeit gleich hohe Löhne zu bezahlen. «Die Arbeitgeber könnten oder würden in diesem Fall Produkte und Dienstleistungen verteuern. Indirekt würde das zumindest teilweise also auch von den Arbeitnehmenden getragen», so Bader. Eine dritte Möglichkeit wäre, eine Reduktion der Erwerbsarbeitszeit über Steuern zu finanzieren indem weniger die Arbeit und vermehrt Kapital und Umwelt besteuert würden. Als besonders interessant bezeichnen die Forschenden die vierte Option: «Es ist gut denkbar, dass eine generelle Arbeitszeitreduktion in der Schweiz die Kosten für Gesundheitswesen und Arbeitslosenversicherung senken könnte», so Bader. Denn Studien zeigten, dass Menschen, welche die Arbeitszeit reduziert haben, weniger häufig Burn-outs haben. Heute sind laut Job-Stress-Index rund ein Drittel der fünf Millionen Erwerbstätigen in der Schweiz emotional erschöpft. «Eventuell wäre eine Arbeitszeitreduktion unter diesem Gesichtspunkt gesamtwirtschaftlich betrachtet sogar kostenneutral», so Bader. Das müsse jedoch noch eingehender untersucht werden.

Centre for Development and Environment (CDE)

Transformationsprozesse anstossen im Rahmen der Agenda 2030

Das CDE ist das Schweizerische Kompetenzzentrum für nachhaltige Entwicklung. Als eines der strategischen Zentren der Universität Bern ist es beauftragt, nachhaltige Entwicklung gesamtuniversitär in Forschung und Lehre zu verankern. In Abstimmung mit den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 erarbeitet das CDE Lösungsansätze und stösst Transformationsprozesse an, welche die Gewinne und Risiken der Globalisierung fairer verteilen, die natürlichen Ressourcen schonen und das Wohlergehen auf der Welt fördern. Das CDE beschäftigt rund 100 Mitarbeitende aus 25 Disziplinen und ist in fünf Regionen des globalen Südens sowie in der Schweiz und in Europa aktiv. Das CDE realisiert derzeit 74 Projekte. Ein wichtiger Teil der Aufgaben des CDE sind Lehre und Ausbildung. Das CDE bietet Lehrangebote im Bereich nachhaltiger Entwicklung auf Bachelor-, Master-, Doktorats- und Nachdiplomstufe mit derzeit über 500 Studierenden an.

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